Einführung

Die hier vorliegenden und noch zu veröffentlichenden Schriften gehören der kommunistischen Linken an, deren herausragendster Vertreter Amadeo Bordiga war, Verfasser aller hier auf Deutsch übersetzten Texte. Die kommunistische Linke betrat einige Jahre vor dem 1. Weltkrieg und zur Gründungszeit der III. Internationale, zunächst als linker Flügel der sozialdemokratischen Partei Italiens und 1921 als Gründerin der kommunistischen Partei Italiens, den Schauplatz.

In diesem letzten revolutionären Zyklus nahm die „Sinistra“ eine besondere Stellung unter den Kommunisten ein. Bis 1922, dem Jahr, in dem sich das kurze Zeitfenster der möglich gewordenen Revolution wieder schloss und die Differenzen wesentlich taktischer Natur waren, trat die Linke entschieden sowohl den sozialdemokratisch beeinflussten als auch den darauf reagierenden sogenannten radikal-kommunistischen Parteien bzw. Gruppierungen auch innerhalb der Internationale entgegen. Ihre theoretischen Positionen waren ebenso wie ihr praktisches Handeln von Anfang an und kompromisslos auf die rein proletarische Revolution ausgerichtet, was sich auch in der Haltung gegenüber der russischen Revolution zeigte. Statt, wie die kommunistischen Führer in den anderen westlichen Ländern, die Ergebnisse der russischen doppelten, erst bürgerlichen, dann proletarischen Revolution auf die westlichen, sich in Gärung befindenden Länder zu übertragen, sah Bordiga umgekehrt die Notwendigkeit, der russischen, von inneren Krisen bedrängten Bewegung zu Hilfe zu kommen. Es kam anders. Das Ausbleiben der revolutionären Umwälzung in West- und Mitteleuropa ließ die russische Revolution isoliert, so dass sich die kapitalistische, bürgerliche Gesellschaft auch in Russland konsolidieren musste. Bereits den nächsten, wenngleich weit entfernt liegenden, noch heute auf sich warten lassenden revolutionären Zyklus im Blick, bekämpfte die kommunistische Linke in den folgenden Jahren die als „Stalinisierung“ bekannte Verfälschung der nicht mehr nur taktischen, sondern zunehmend auch grundsätzlichen und theoretischen Positionen des Marxismus.

Nach dem II. Weltkrieg leistet Bordiga noch einmal eine gewaltige Arbeit, unter anderem um die Bilanz der russischen Revolution zu ziehen und den Involutionsprozess Russlands zu analysieren. Diese Arbeit nimmt eine zwar wichtige, doch nicht zentrale Stellung in seinem Werk ein. Erwähnt sei hier nur, dass Bordiga in dieser Zeit das „Geständnis“ voraussieht (dass Russland nicht sozialistisch, sondern kapitalistisch ist), das 30 Jahre später abgelegt und, mit dem so bejubelten „Mauerfall“ als Symbol, als Bankrotterklärung des Marxismus gefeiert wird. Was indes geschlagen wurde, ist nur die verheerende, doch real existierende Legende vom „Sozialismus“. Trotz seiner klaren marxistischen Kritik der russischen Politik stellt Bordiga die Niederlage der Revolution nicht allein in den russischen Kontext, sondern in den umfassenderen und viel allgemeineren der weltweiten Konterrevolution.

Um den Zusammenhalt der immer noch über ganz Europa versprengten Genossen zu wahren, aber ohne sich der 1943 von den Linkskommunisten gegründeten IKP (Internationale Kommunistische Partei) formell anzuschließen, veröffentlicht Bordiga seit 1945 in deren theoretischem Organ „Prometeo“ und der Parteizeitung „Battaglia comunista“ sowie, nach einer Spaltung, ab 1952 in „Il programma comunista“ theoretische und politisch-progammatische Schriften, stets unter einem Pseudonym oder anonym, insofern das Selbstverständnis unter Kommunisten für ihn den Anspruch auf die „schlimmste Form des Privateigentums“, des intellektuellen Privateigentums, ausschließt.

Da die sowohl dem Volumen als auch dem Gegenstand nach äußerst reiche Arbeit Bordigas im Rahmen dieser kurzen Einleitung nicht erlaubt, eine auch nur halbwegs vollständige Übersicht über seine Schriften zu geben, wollen wir hier einige Aspekte, die die Position der kommunistischen Linken vielleicht andeuten können, kurz anreißen.

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Eine zentrale These Bordigas ist die der „historischen Invarianz des Marxismus“. Bereits in den 1920er Jahren hatte er sich hartnäckig der Adaption der Theorie an die jeweils aktuelle Lage widersetzt, und in der unmittelbaren 2. Nachkriegszeit entwickelt er seine Auffassung von der Parteifunktion, wonach die revolutionäre Partei im Besitz ihrer Lehre ist, die „invariant“ ist, weil „unsere Doktrin nur an seltenen und äußerst fruchtbaren Wendepunkten in der Geschichte aus dem gesellschaftlichen Untergrund hervorbricht“. Die proletarische Lehre musste in der explosiven Phase um die Mitte des 19. Jahrhunderts, als alle notwendigen, dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus und dem Kapitalismus selbst angehörenden Daten und Termini vorhanden waren, entstehen – nicht früher, nicht später. Die Tendenzen, den Marxismus ergänzen oder aktualisieren zu wollen, sieht Bordiga für absolut verhängnisvoll an – dogmatisch, für ihn ein Ehrentitel, hält er an der ursprünglichen Marxschen Theorie fest, die sich nach einer Reihe von revolutionären Kampfzyklen, durch Siege und Niederlagen hindurch, bestätigen muss, oder sich als historisch hinfällig erwiesen haben wird. Doch weder die Niederlagen noch die Konterrevolution berechtigen irgend jemanden, nicht die Aktivisten und „erst recht nicht die Führer“, die Lehre „schöpferisch“ zu „bereichern“, und niemand ist ermächtigt, die Lehre „bei jedem Wetterumschwung, womöglich mit Hilfe von Mehrheitsbeschlüssen“ umzuändern. Eine Position, die dem Zeitgeist so völlig widerspricht, dass die italienische Linke, schon zur Zeit der III. Internationale, großen Anfeindungen ausgesetzt und als „sektiererisch“, „radikalistisch“ etc. verleumdet wird. Doch sie hält daran fest: Weil die invariante Lehre das Proletariat „an seinen historischen Weg fesselt“, können die Fragen der Revolution nicht dadurch gelöst werden, dass man die Theorie den historischen Wechselfällen anpasst, sondern nur, indem man hartnäckig auf der Fragestellung beharrt, wie die in der Theorie enthaltene Lösung Wirklichkeit wird.

Mit der heutigen, den gesamten Globus erfassenden Erschütterung des kapitalistischen Systems, und nachdem sich in den letzten 90 Jahren der Konterrevolution alle Versuche, den Marxismus zu „revisionieren“ als hohl und ohnmächtig erwiesen haben (wie in der entsprechenden Praxis jeder Reformismus ins Leere gelaufen ist; heute gehen alle Reformen vom Kapitalismus selbst aus, der sich immer wieder als fähig erweist, alle politischen und sozialen Strömungen zu integrieren und für sich zu nutzen), ist wieder eine Rückkehr zur ursprünglichen Theorie festzustellen. Etwas, was immer den Beginn einer unruhigen, revolutionären Zeit markiert hat, wie andererseits in konterrevolutionären Zeiten die bürgerlichen Einflüsse bestimmend sind, deren Fortschritts- und Wachstumsideologien suggerieren, nur die Suche nach dem „Neuem“ und „Aktuellem“ könne Antworten auf die brennenden Fragen der Zeit geben. Die Forderung der kommunistischen Linken nach „Wiederherstellung unserer Lehre“, d.h. die Rekonstruktion der, ob sozialdemokratisch, stalinistisch oder anderswie verfälschten und brutal entstellten Theorie, wird wieder von Teilen der Klasse als unverzichtbare Praxis begriffen. Wiederherstellung sicher nicht in dem banalen Sinn mechanischen Nachplapperns oder modernisierender Kompositionen, sondern in dem von Bordiga verfolgten wissenschaftlichen Sinn, der Erkenntnis durch Rekonstruktion des Gegenstandes in anderer Form ermöglicht.

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„In seiner reifsten Bedeutung hat der Determinismus nichts mit Passivität zu tun, sondern stellt klar, dass der Mensch handelt, bevor er handeln wollte, und dass er will, bevor er weiß, warum er will, da sein Kopf das letzte und unsicherste seiner Glieder ist. Den besten Gebrauch, den eine Gruppe von Menschen von ihrem Kopf machen kann, ist, den historischen Moment vorauszusehen, in dem sie – alles andere als Passivität! – zum ersten Mal mit dem Kopf voraus in den Strudel der Aktion und Schlacht geschleudert werden“ (Dialog mit den Toten).

An der Frage des Determinismus schieden sich schon immer die Geister. Gewöhnlich stehen sich zwei Positionen gegenüber. Entweder fühlt man sich zur Passivität berechtigt, weil ja sowieso alles seinen Gang geht und unsere Zeit schon noch kommen werde. Oder die zukünftige Entwicklung ist durch alle möglichen Zufälle und Unwägbarkeiten so bestimmt, dass keine sicheren Voraussagen gemacht werden können, weshalb Wille und Bewusstsein – sei es von „in die Geschichte eingehenden“ Tatmenschen, sei es von großherzigen und die Menschheit retten wollenden sozialen Gruppierungen – als entscheidendes Moment gelten.

Jenseits dieser landläufigen Alternative sagt uns Bordiga etwas über den Sinn des Determinismus. Die Geschichte der Menschengattung weist bestimmte Phasen auf, in denen die Produktionsverhältnisse der jeweiligen Produktionsweise instabil und bis auf die Grundfesten erschüttert werden. In solchen Phasen kann der Bruch zur bestehenden Produktionsweise und der ihr entsprechenden gesellschaftlichen Form entstehen. Wir erleben heute eine solche Phase. Um die Bedürfnisse des Kapitals befriedigen zu können, muss sein Ver- und Entwertungszyklus ein derart höllisches Tempo annehmen, dass sein von ihm selbst produziertes Resultat: die seinen Verwertungsprozess behindernde Vergesellschaftung, immer wieder von Neuem und in immer kürzeren Zyklen zerstört wird, um seinen Lebensprozess aufrecht erhalten zu können. In der „reellen Phase“ (Marx) verlangt die kapitalistische Funktionsweise das Auftreten der entsprechenden politischen, durch demokratische Faschisierung gekennzeichneten totalitären Formen. Die kapitalistische Epoche, mit ihren immer tiefer gehenden, ganze Kontinente verhökernden und auch zukünftige Generationen opfernden permanenten Krisen, ist an einen Punkt angekommen, an dem die Produktivkräfte, die sich innerhalb der längst schon viel zu eng gewordenen Produktionsverhältnisse bewegen müssen, eine solch gigantische und zerstörerische Dimension annehmen, dass – bei Fortbestehen dieser Verhältnisse – neben einem Großteil der menschlichen Gattung selbst auch ein großer Teil der belebten und unbelebten Natur vernichtet wird, was an die Grundlagen des Lebens in seiner bisherigen Form rührt. (Hier sei nur erwähnt: Während sich bei den Philosophien, Religionen und Ideologien alles um das „Seelenheil“ des Individuums dreht, geht der Marxismus umgekehrt vom Standpunkt der Gattung aus.)

Mit dem Auftreten der kapitalistischen Produktionsweise verwirklicht sich zum ersten Mal in der Geschichte der gesellschaftliche Charakter der Arbeit, der zur Grundlage der Produktion selbst wird. Im Kapitalismus erscheint dieser Charakter in negativer Form, denn das gesellschaftliche Vermögen der menschlichen Tätigkeit gehört dem Kapital an und tritt dem Menschen nur als „feindliche Macht“ (Marx) gegenüber. Und doch: Der Kapitalismus ist die einzige Produktionsweise, in der die Zukunft bereits in der Gegenwart erkennbar ist, so dass Marx feststellen konnte, dass der Kommunismus in den materiellen Bedingungen bereits existiert. Von diesem Blickpunkt aus ist das Kapital tatsächlich nur die Mystifikation der vergesellschafteten Menschheit. Doch das kommunistische planetarische Gemeinwesen ist in der Realität nicht einfach zu „lesen“, ist aus der Realität heraus nicht unmittelbar, positiv ableitbar, sondern muss entziffert werden. Marx hat das Kapital nicht beschrieben: Er hat die Realität erkannt, weil er deren Wirklichkeit analysiert hat – jede Wissenschaft geht so vor. Und seine Analyse macht die sozialen Charakteristiken der Wirklichkeit als das frontale dialektische Gegenteil der sozialen Charakteristiken der Realität erkennbar.

Wenn die Theorie zweifelsfrei die postkapitalistische Epoche als kommunistisch identifiziert, bedeutet dies jedoch nicht, dass diese Epoche zwangsläufig eintreten wird; determiniert ist ihre Möglichkeit: „Wissenschaftlich können wir ein anderes Ende der kapitalistischen Gesellschaft nicht ausschließen – wie zum Beispiel eine Rückkehr zur Barbarei, eine durch Kriege ausgelöste globale Katastrophe, die etwa die pathologische Degenerierung der Menschengattung mit sich brächte (die Blinden und die zur radioaktiven Zersetzung ihres Gewebes Verdammten in Hiroshima und Nagasaki gemahnen daran), oder andere heute nicht vorhersehbare Zustände“ (Richtlinien zur Wiederherstellung der marxistischen Lehre).

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Die andere, den Determinismus ablehnende Haltung, die den Willen und das Bewusstsein in den Vordergrund stellt, setzt in ihrer linken Version auf ein zu „schaffendes Klassenbewusstsein“, das zusammen mit der Reife der Situation und Verschärfung der Widersprüche zur Revolution führen müsse. Bordiga tritt dieser Anschauung mit der verblüffend ketzerischen Aussage entgegen, dass der Hinweis auf die Reife der Verhältnisse nicht mehr als die beständige Reproduktion der Widersprüche, auf einer immer höheren Ebene, beinhaltet – „Der Kapitalismus hat keine absteigende Kurve“ – und die kapitalistische Hyperentwicklung unweigerlich die bestehenden Verhältnisse immer mehr mystifiziert und das Denken fetischisiert.

Die gewöhnliche Vorstellung, wonach sich die Proletarier nur bewusst werden müssen, Klasse zu sein, um dann die Revolution zu „machen“, kehrt Bordiga um. Materielle Kräfte, die „stärker als jedes Bewusstsein sind“, drängen die Menschen zum Handeln, zur Aktion – das Bewusstsein kommt später. Die antagonistische Reaktion unmittelbar aus der kapitalistischen Dynamik, also der im Doppelcharakter begründet liegenden Widersprüchlichkeit ableiten zu wollen, hat sich als Sackgasse erwiesen. Die Widersprüche selbst führen nicht automatisch raus, der exklusive Verweis auf sie ist trivial. Das Kapitalverhältnis, mit den beiden Polen, Kapital und Arbeit, als dem zugrunde liegenden Widerspruch überhaupt, schließt aus, das Verhältnis nach nur einem Pol hin auflösen zu können: Das ganze Verhältnis als solches muss aufgelöst werden. Anders als bei den früheren Produktionsweisen, die statisch waren, kennt die kapitalistische Dynamik keine Schranken: Das Kapital überschreitet diese tendenziell, indem es sich total verselbständigt. Der selbständig gewordene Wert ist seine eigene Ideologie, was sich im sozialen Leben jeden Tag wieder im dantesken nicht enden wollenden Tanz um die Ware bzw. das Geld übersetzt.

In Memoriam für die Vielen:

Elena und Reimund