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Invarianz des Marxismus

Eine neue Doktrin kann nicht zu einem x-beliebigen historischen Zeitpunkt auftauchen. Im Gegenteil: Es gibt bestimmte und genau charakterisierte – und auch höchst seltene – Epochen der Geschichte, in denen sie als blendender Lichtkegel auftauchen kann. Hat man den entscheidenden Augenblick nicht erkannt und das alles erhellende Licht nicht erblickt, wird man vergeblich zu den Kerzenstummeln greifen, mit denen pedantische Akademiker oder von ihrer Sache nicht überzeugte Kämpfer sich den Weg zu bahnen suchen.

Für das moderne, zuerst in den Ländern mit großer kapitalistischer, industrieller Entwicklung entstandene Proletariat wurde die Finsternis kurz vor Mitte des vorigen Jahrhunderts zerrissen. Die in sich geschlossene Doktrin, an der wir festhalten, festhalten müssen und festhalten wollen, hatte damals alle Daten zur Verfügung, um entstehen zu können und den Verlauf von Jahrhunderten zu zeichnen, in denen sie bekräftigt und nach gewaltigen Kämpfen bestätigt werden muss. Entweder bleibt diese Position gültig oder die Doktrin wird sich als falsch und die Behauptung des Auftretens einer neuen Klasse mit eigenem Charakter, eigenem Programm und eigener revolutionärer Funktion in der Geschichte wird sich als hohl erwiesen haben. Wer also daran geht, Teile, Thesen, wesentliche Abschnitte des marxistischen „Korpus“ – seit ca. einem Jahrhundert unser „Vermögen“ – auszuwechseln, zerstört dessen Kraft noch mehr als der Verneiner, der den Marxismus als Ganzes zu einer Missgeburt erklärt.

06.09.1952 – Die historische „Invarianz“ des Marxismus

Determinismus

Für den Determinismus sind Bewusstsein und Wille des Individuums keine wirkenden Faktoren. Dessen Handeln ist durch seine Bedürfnisse und Interessen bestimmt, und es hat keine Bedeutung, von welchem Antrieb das Individuum – nachträglich – glaubt, es habe seinen Willen geweckt – einen Willen, dessen es sich erst mit Verspätung bewusst wird. Dies gilt für die „da unten“ wie für die „da oben“, für die Armen wie für die Reichen, die Gedemütigten wie die Mächtigen. Wir Marxisten sehen die Person daher als sekundär an, erst recht die „Persönlichkeit“, diese armselige Marionette der Geschichte. Je bekannter sie ist, an desto mehr Fäden hängt sie. In unserem großartigen Spiel ist sie nicht vorgesehen, nicht einmal als bescheidener Bauer. Aber auf dem Schachbrett gibt es doch einen König? Sicherlich, doch seine Rolle besteht bloß darin, matt gesetzt zu werden.

Innerhalb der Klasse schafft die Gleichförmigkeit, der Parallelismus von Lebensumständen eine historische Kraft, eine Ursache historischer Entwicklung. Aber auch hier geht die Aktion dem Willen voraus, und auch dem Klassenbewusstsein.

03.03.1956 – Dialog mit den Toten (6)

Der moderne Zwangsarbeiter

Nunmehr können antiker Sklave und Leibeigener den modernen Lohnarbeiter schon von oben herab ansehen. Sicher, sie durften ihren Arbeitsort nicht verlassen, mussten aber auch nicht in den Krieg ziehen. Der moderne Sklave steht andauernd unter dem Alb des Krieges und hat die besten Aussichten, verletzt, getötet, gefangen oder zu Zwangsarbeit herangezogen zu werden.

[Das Meisterwerk Amerikas: der Konsumentenkredit.] Der Arbeiter ist nicht mehr Besitzer, sondern Schuldner seiner paar Habseligkeiten, und wenn ihm auch seine Wohnung gehört, schuldet er ihren Wert. Es geht ihm also praktisch wie dem Sklaven, der, nachdem er zu Essen bekommen hatte, Schuldner des Nettowerts seiner eigenen Person war.

Dieses amerikanische Kreditsystem, das den Arbeiter durch die Schulden an seinen Arbeitsplatz bindet, wurde schon industrieller Feudalismus genannt. Ein weiterer Schritt in Richtung „wachsender Verelendung“, also Verlust jeglicher wirtschaftlichen „Reserve“. Das klassische Proletariat hatte die Reserve Null; das moderne Proletariat hat eine negative Reserve: Es muss erst eine beträchtliche Summe abzahlen, um nackt davonziehen zu können. Womit soll man zahlen, wenn nicht wie dem Shylock [Geldverleiher bei Shakespeares], mit einem Stück des eigenen Fleisches?

Das Kollier des hohen Lebensstandards und Wohlstands, jenes gemeinsame Ideal beider, in der gegenwärtigen „quantitativen“ Zivilisation miteinander wetteifernden Welten [Russlands und Amerikas], ist die Kehrseite des Stacheldrahts der Konzentrationslager – gleich welche Flagge dort gehisst wurde.

03.03.1956 – Dialog mit den Toten (4)

Zusammenbruch

Der marxistische Begriff vom Zusammenbruch des Kapitalismus bedeutet nicht, dass dieser eine Periode der Akkumulation durchläuft und dann eine, in der ihm von alleine die Luft ausgeht. Das war die These der pazifistischen Revisionisten. Für Marx wächst der Kapitalismus grenzen- und maßlos an; die Kurve des weltweiten, kapitalistischen Potentials hat keinen langsamen Anstieg mit einer darauf folgenden Verlangsamung und einem sanften Abfall; sie steigt im Gegenteil bis zu einer plötzlichen, ungeheuren Explosion an, die jede Verlaufsregel des „historischen Diagramms“ bricht und das Zeitalter der kapitalistischen Produktionsform beschließt.

03.03.1956 – Dialog mit den Toten (3)

Sozialistischer Plan

Aber der erste wahre sozialistische Plan (der als unmittelbarer despotischer Eingriff verstanden werden muss, siehe „Manifest“) wird endlich ein Plan sein zur Erhöhung der Produktionskosten, Kürzung des Arbeitstages, Desinvestition von Kapital, quantitative und vor allem qualitative Nivellierung der Konsumtion (die unter der kapitalistischen Anarchie zu neun Zehntel absurde Vergeudung von Produkt ist), weil nur so der „betrieblichen Rentabilität“ und den „rentablen Preisen“ beizukommen sein wird. Also ein Unterproduktionsplan zur drastischen Verringerung des Anteils der Kapitalgüter an der Produktion. Dem Reproduktionsgesetz wird sofort die Luft ausgehen, wenn es die Marxsche „Abteilung II“ (Produktion von Lebensmitteln) endlich schafft, die „Abteilung I“ (Produktion von Produktionsmitteln) knock-out zu schlagen.

10.10.1952 – Dialog mit Stalin (2)