Redaktionelles Vorwort (Oktober 2022)
Wir beabsichtigen, in der kommenden Zeit eine Textauswahl der Schriften Amadeo Bordigas aus den 1920er Jahren mit dem Schwerpunkt auf der „deutschen Frage“ zu veröffentlichen.
Die von der italienischen Linken, der sinistra, vor hundert Jahren eingenommenen Positionen, ihre Schlussfolgerungen und Lehren aus dem letzten revolutionären Zyklus sind sicher nicht als vergangen und erledigt anzusehen. Umgekehrt belegt ihre offenkundige Aktualität, dass die sich damals stellenden Fragen und Aufgaben auch heute noch auf dem Tisch liegen und die Periode des letzten Kampfzyklus, dessen Fenster sich (aus retrospektiver Sicht) definitiv 1926 schloss, einer marxistischen „Verdauung“, wie Bordiga vielleicht sagen würde, harrt. Bordiga hat, zusammen mit kommunistischen Gefährten (die sinistra), diese Verdauungsarbeit in den 1950er und 1960er Jahren mit Blick auf den kommenden Zyklus begonnen und ins Werk gesetzt. Die historischen Erfahrungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlaubten ihm damals wie später, sich der Verwässerung, der Entstellung, der „Aktualisierung“ der proletarischen Theorie durch den linken Mainstream entgegenzustellen, der im Schlepptau der Aktualität die sogenannten zivilisatorischen Errungenschaften und Fortschritte wertschätzt und sich höchstens noch Reformen vorzustellen vermag, die den schlimmsten Auswüchsen des kapitalistischen Systems die Spitzen abbrechen sollen, um, gewollt oder nicht, den historisch längst unmöglich gewordenen Burgfrieden aufrechtzuerhalten.
Wenn der Zustand der Dinge in den „Herzen der Bestien“ mittels eines simulierten Reichtums und einer bodenlos gewordenen, immerwährenden Gegenwart verfestigt werden konnte, ändert dies doch nichts daran, dass die antagonistische Reaktion nicht auf Dauer verkrüppelt und erstickt werden kann. Bordiga zählte von Anfang an auf die materiellen, auch unterirdisch wirkenden Kräfte und wusste, dass diese stärker als das „bewusste Sein“ sind. Die marxistische Brille, durch die der „Sturkopf“ (Bucharin) Bordiga die Ereignisse und Prozesse außergewöhnlich klar sah, machten seine Schriften, jenseits aller individualistischen Verdammung oder Beweihräucherung, zu einem äußerst kraftvollen Werkzeug der proletarischen Bewegung. Die Lösungswege, die er bahnte, sind aus objektiven wie subjektiven Gründen damals nicht eingeschlagen und überwuchert worden, vor allem weil Sowjetrussland infolge der in Deutschland verspielten Revolution auf sich selbst gestellt blieb und nur in Richtung Kapitalismus gehen konnte; ein Ergebnis, das allerdings durch die verhängnisvolle Legende vom „Sozialismus in einem Land“ in Nebel gehüllt wurde: Noch schlimmer als die stalinistischen Säuberungen, sagt Bordiga, ist die Entstellung und Verfälschung der proletarischen Lehre. In einer „zur Theorie drängenden Wirklichkeit“ (Marx: Thesen über Feuerbach) müssen daher jene Wege vom Gestrüpp der bürgerlichen Ideologie – in Deutschland namentlich in der Version des Antifaschismus – und vom Schlamm des stalinistischen und poststalinistischen kapitalistischen Sozialismus freigeschaufelt werden (Letzteres hat Bordiga getan).
Ebenso wenig wie die proletarische Bewegung nicht aus dem Nichts entsteht, ist die marxistische Rekonstruktion und Verarbeitung der Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland, deren größten Teil Irrwege und Niederlagen kennzeichnen, nicht voraussetzungslos möglich. Bordiga hat sich in den 1920er Jahren nicht selten direkt oder indirekt zur sogenannten deutschen Frage geäußert – immer eingebettet in die marxistische Weltsicht vom Verlauf und den Etappen der Geschichte, deren Gegenstand der Entstehungsprozess des gesellschaftlichen Menschen ist. Grundlage und Ausgangspunkt der Wiederherstellung der marxistischen Theorie ist das Werk Bordigas, das als Organ der Lebensäußerung des proletarischen Kampfes „Produkt und Faktor“ des historisch wesentlichen und lehrreichen Kampfzyklus war. Dessen Niederlage konnte nicht verhindert werden aufgrund der Unreife der kommunistischen Parteien im Westen, die am Leninschen Diskurs dort, wo er historisch abbrach, nicht anknüpfen konnten; das historische „Modell“ der russischen doppelten Revolution wurde aufgenommen, doch es wurde in keiner grundsätzlichen Auseinandersetzung davon ausgegangen. Vielmehr ist dessen spezifische Taktik von den kommunistischen Parteien im Westen, mit der einzigen Ausnahme der sinistra, zur Theorie verallgemeinert worden. Auf diesen Zyklus gehen wir zurück, auch und insbesondere, damit die Verarbeitung der damals im Zentrum stehenden „deutschen Frage“ in Angriff genommen werden kann. Die Leser der Schriften Bordigas kennen die Art und Weise dieses Vorgehens, mit der zum Beispiel die russische Entwicklung ihres Scheins entledigt und ihre wirklichen Kraftlinien freigelegt wurden.
Wir werden die Texte in chronologischer Reihenfolge einstellen, beginnend mit 1918 – mit einer Ausnahme: dem „Thesenentwurf der Linken zum III. Parteitag der PCd‘I“ (Januar 1926), abgekürzt und bekannt unter dem Titel „Thesen von Lyon“ (die alte Übersetzung auf dem alten maulwurf unter der Rubrik: Alfa: „Lyoner Thesen“ wird somit durch diese ersetzt). Wir wollen dem Leser damit eine Art Übersicht an die Hand geben, insofern in diesen Thesen alle wesentlichen Fragen behandelt oder zumindest umrissen werden, die im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen der sinistra einerseits und der Kommunistischen Internationale sowie ihren nationalen Sektionen andererseits standen. Kämpfte die sinistra in der ersten Phase dagegen, dass je nach augenblicklicher Situation von Mal zu Mal taktische Losungen ausgegeben wurden, die mit den Eckpfeilern kommunistischer Politik nicht vereinbar waren und sich immer mehr von ihnen lösten, zeigte sich bereits Ende 1922 das ganze Ausmaß der Gegensätze: Eine breite Diskussion innerhalb der Kommunistischen Internationale über die erworbenen Kampferfahrungen wurde nicht zugelassen. Die Divergenz dehnte sich von den taktischen Leitlinien auf die kommunistischen Grundsätze und programmatischen Richtlinien aus, so dass die Gefahr der tödlichen Revision des Marxismus real zu werden drohte. Diese für die Zukunft wertvollen Erfahrungen des Kampfzyklus der 1920er Jahre treten durch die eindeutige und klare (Op)Position der sinistra erst in aller Schärfe hervor.
Die von uns eingefügten zahlreichen Fußnoten, Hinweise und Quellenangaben, wie auch die hinzugefügten Anhänge, haben den Zweck, das Studium des genannten Zyklus zu erleichtern. Soweit sie in die Textauswahl eingehen, werden wir die auf dem alten-maulwurf bereits eingestellten Texte aus den 1920er Jahren einer Revision unterziehen und ergänzen.